Seit nunmehr sieben Tagen befinden sich auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin Flüchtlingsaktivist_innen im Hungerstreik. Nachdem sie und andere einen rund 600 km Marsch von Würzburg nach Berlin zurückgelegt haben, ein Protestcamp auf dem Oranienplatz errichteten, eine der größten Flüchtlingsrechtsdemonstrationen seit Jahren in Berlin organisierten und die nigerianische Botschaft in Berlin besetzten, harren rund ein Dutzend der Aktivist_innen bei Minusgraden vor dem Brandenburger Tor aus. Die Polizei schikaniert sie mit immer neuen, absurden Auflagen und nimmt ihnen Decken weg; Schlafsäcke und Isomatten sind schon seit Tagen untersagt.
Die Polizei zeigt sich desinteressiert und steht teilweise spöttisch neben den frierenden und erschöpften Aktivist_innen. Besonders nachts (wenn weniger solidarische Menschen beim Protestcamp sind), schreiten sie ein und nehmen Decken und Unterlagen weg. Der zuständige Bezirk könnte eine Sondernutzung von Zelten oder Decken genehmigen, weigert sich jedoch. In sozialen Netzwerken schwirren (unbestätigte) Nachrichten rum, dass das Camp in der Nacht zum 30. Oktober endgültig geräumt werden soll (anscheinend wegen eines Besuchs vom türkischen Regierungschef Erdogan, der im Hotel Adlon neben dem Pariser Platz übernachten soll). Es kann also sein, dass es bereits geräumt ist, wenn dieser Text erscheint.
Solidarische Menschen bringen seit dem ersten Tag (24. Oktober) Decken, heißes Wasser, Wärmeflaschen, Tee und vieles mehr mit, um den Hungerstreik etwas erträglicher zu machen. Als ich am Samstag mit ein paar Freundinnen hinfuhr, waren sehr weniger Unterstützer_innen vor Ort. Tourist_innen nahmen den Protest eher als Attraktion wahr und knipsten Fotos, nur selten wurden die ausgelegten Flyer mitgenommen. Zu dem Zeitpunkt gab es schon ein paar Berichte in den klassischen Medien, aber auch nach mehreren Tagen war das mediale Echo einfach zu gering. Warum? Das erklärt die ZDF und zeigt auf, wie sie arbeiten: Menschenrechtsverletzungen anzuprangern oder Menschenrechte zu stärken gehört nicht dazu, da anscheinend nicht „relevant“ genug. Nur wegen des Drucks aus sozialen Netzwerken hat ZDF letztendlich doch berichtet.
Besonders viel mobilisiert in den letzten Tagen haben Mitglieder der Piratenpartei. Böse Zungen mögen behaupten: Endlich haben auch sie mitbekommen, dass es Aktionen von Flüchtlingsaktivist_innen gibt. Aber diese Kritik kann mensch auch andere Parteien oder Organisiationen richten.
Die Piratin Laura Dornheim forderte vorgestern z.B. Journalist_innen per Twitter auf, über die Hungerstreikenden zu berichten. Ein BILD-Journalist machte mit seiner Antwort allerdings klar, dass das nur interessant wäre, wenn der umstrittene politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Johannes Ponader, auch vor Ort sei. Das Angebot, dass Dornheim sich sogar oben ohne hinstellen würde, beantwortete der Journalist dann so: „Wenn Du das wirklich machst, schnapp ich mir jetzt nen Fotografen und komme sofort. Deal?“
„Titten für Menschenrechte“
Eine Idee war geboren: Brüste zeigen für Menschenrechte! Und mit dem Schlagwort tits4humanrights („Titten für Menschenrechte“) wurde für die Aktion in den Folgestunden ordentlich Werbung gemacht, so dass gestern um Punkt 13 Uhr mehr Presse vor Ort war als insgesamt in den vergangenen sechs Tagen.
Laura Dornheim, Anke Domscheit-Berg, Julia Schramm und weitere Aktivist_innen machten es spannend: Um 13 Uhr zogen sie ihre Jacken und Pullis aus, zeigten ihre selbstbemalten T-Shirts mit der Aufschrift: „Menschenrechte statt Titten“ und riefen der sensationsheischenden Presse zu: „Shame on you! Schande!“
Laut taz waren Bild, B.Z., dpa, ARD, Spiegel online und Neues Deutschland vor Ort. Auch die Zeit, Welt, der Bayerische Rundfunk und der Rundfunk Berlin-Brandenburg hatten sich angekündigt. Sie alle warteten auf Brüste – und sie alle bekamen einen Spiegel vorgehalten. Schande über die Presse, die nur berichtet, wenn nackte Haut im Spiel ist.
Auf dem Blog „tits4humanrights“ erklärte Dornheim die Beweggründe für die Aktion und dass diese mit den Flüchtlingsaktivist_innen abgesprochen war:
Von Anfang an war klar, dass Brüste zeigen (in diesem Fall) keine adäquate Protestform ist und wir nicht noch mehr Sexismus in den Boulevard bringen wollen. So entstand die Idee, anzukündigen, dass wir als Gruppe gemeinsam unsere Brüste zeigen. Um Journalist*innen der BILD – aber eben auch allen anderen, die bisher kaum oder gar nicht über das Refugeecamp berichteten, zu so einer Aktion dann aber kommen – einen Spiegel vorzuhalten. Diesen Plan haben wir mit den Geflüchteten abgesprochen, sie haben ihn im Plenum diskutiert und für gut befunden.
Anke Domscheit-Berg twitterte nach der Aktion:
Ich finde diese Aktion sehr gelungen und hoffe, dass die Aufmerksamkeit und die Solidarität auf der Seite der Flüchtlingsaktivist_innen bleibt. Schade wäre es, wenn die Piratenpartei dies (wie teilweise auf Twitter zu lesen ist) als Erfolg der Piratenpartei feiert – denn das macht die Arbeit der unzähligen Aktivist_innen unsichtbar, die seit Wochen beim Protestcamp am Oranienplatz helfen, demonstrieren und seit Anfang an am Brandenburger Tor ausharren. Falls das Protestcamp morgen noch da ist: Geht hin, bringt heißes Wasser, Kaffee, Becher, Tabak… und bleibt ein paar Stunden da. Je mehr Menschen, umso mehr Widerstand ist möglich. Auch in Frankfurt brauchen die Aktivist_innen Unterstützung!
Weitere Infos und geplante Proteste:
- „Die Erklärung der Protestbewegung der Flüchtlinge in Deutschland„
- Pressespiegel der letzten Tage auf tits4humanrights.wordpress.com
Berlin:
- Tragt euch in den Schichtplan für den Pariser Platz vorm Brandenburger Tor ein.
- Alle Infos zu den Protestaktionen in Berlin: refugeetentaction.net
Aktionen:
- 04.11.2012: Demo: Das Problem heißt Rassismus
- 10.11.2012: Soliparty @ Südblock
- 30.11.2012: Soliparty @ ZMF (Möbelfabrik)
- 30.10.12: „Asyl und Religionsfreiheit sind Menschenrecht„
Frankfurt
- Infos zu den Protesten in Frankfurt: fluechtlingsprotest-hessen.de
- „Flüchtlingscamp an der Hauptwache“ (Frankfurter Rundschau)
Hamburg
- 30.10.12: Schulterblatt Ecke Susannenstr
Facebook-Onlineaktion
- Facebook-Gruppe: Solidarität mit den streikenden Flüchtlingen in Deutschland (Berlin)
- Facebook-Gruppe: Refugee Protestmarch to Berlin
- Flashmob (per Telefon, E-Mail, Fax, persönlich) für die Rechte der Flüchtlinge im Hungerstreik am Brandenburger Tor
- Aktionsgruppe Solidaritätssturm Refugees
In München, Hannover, Düsseldorf und Braunschweig fanden schon gestern Mahnwachen statt.
Bitte ergänzt in den Kommentaren!
Danke für diesen Artikel.
Unter http://bambuser.com/channel/herrurbach finden sich Aufzeichnungen seit dem Morgen des 29.10.2012 aus dem Geflüchtetencamp. Viele freiwillige Strammer*innen stellen in diesem Kanal neues Material bereit, oft auch live.
Bester Gruß
Stephan
Ja, ja, ja, ja, ja, JAAA!! :)
Mensch, wie freut mich diese verdammt coole Aktion! Endlich mal gut gegengeschlagen…
Und schön, dass es bemerkt wurde, dass es schon zuviel Sexismus gibt.
Liebe Magda,
„Sie alle warteten auf Brüste“: die Aktion war zweifelsohne gut. Hieraus einen Generalvorwurf an alle vertretenen Medien abzuleiten, ist weder richtig noch fair, es wird berichtet und es wurde auch schon vor der Aktion von unterschiedlichen Medien berichtet.
Viele Grüße Katja
Richtig dufte Aktion :)
Liebe Katja,
nur kurz (da auf Arbeit): Ja, es wurde auch schon davor berichtet (wenn auch wenig, siehe mein Text), die Masse an Fotograf_innen kam allerdings erst, als zu der Aktion mit den Brüsten aufgerufen wurde. Ich war selbst vor Ort und kenne viele Berichte: Presse war selten bis gar nicht vor Ort, aber urplötzlich sah mensch dutzende Presseleute, als die Aktion ausgerufen wurde – mit gezückten Kameras, um ja ein paar exklusive Bilder zu bekommen. Auf flickr findest du Bilder der Aktion. Und so komme ich schon zu dem Schluß: Richtig interessant wurden die Proteste der Flüchtlinge erst, als einige Piratinnen mit nackten Tatsachen lockten.
beste aktion ever!
ich war ein paar std später da
http://spreemieze.wordpress.com/2012/10/30/655/
So, ich werde die Zeit kündigen, das hat jetzt den Anstoß gegeben und notfalls kann ich síe noch in der Bibliothek lesen…
Taz ist eh besser-die berichteten scho früher.
Afaik hat die NOZ auch schonmal über das hiesige Lager und den Protest da berichtet, vermutlich unter „Deutschland“-Kategorie..
Super Aktion! Es kann wohl nicht angehen, dass mediales Interesse entsteht, wenn es um nackte Brüste statt um Menschen geht. KEIN MENSCH IST ILLEGAL! Die Presse sollte sich wirklich schämen!